„Nicht die Gesunden, sondern die Kranken bedürfen des Arztes“ – VinziDorf Pfarrer Wolfgang Pucher im Wohngesund Interview.

veröffentlicht in Menschen am 18.12.2018

Wolfgang Pucher, Gründer der VinziWerke in Wien, Graz und Salzburg, setzt sich für jene Armut ein, die viele für nicht unterstützenswert halten. Die hässliche Armut, wie er sie nennt. Am 5.12, dem Internationalen Tag des Ehrenamts, würdigte Bundeskanzler Sebastian Kurz bei seinem Besuch im VinziDorf Wien die Arbeit des Vinzi-Gründers sowie den Einsatz und das Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Davor haben wir mit Wolfgang Pucher in seinem Zimmer im VinziDorf Wien gesprochen. Über den Menschen Wolfgang Pucher und über seine Arbeit für jene, die von anderen längst aufgegeben wurden.

Herr Pfarrer Pucher, Sie treten für jene Menschen ein, die ein Leben außerhalb der Gesellschaft führen, die niemand haben will.
Als ich 1973 als Pfarrer nach Graz St. Vinzenz gekommen bin, gab es in meiner Pfarre einen echten Slum. Das waren Alkoholiker oder zum Teil auch Leute, die Gewalt angewendet haben. Das waren Menschen, die jeder gehasst hat. Sie waren Outsider. Und ich wusste, als Priester habe ich die Aufgabe, die Botschaft Jesu sichtbar und spürbar zu machen. Da kommen zuerst die dran, die keiner will. Das hat auch Jesus so gemacht. Er hat sich um Leute gekümmert, die von den Pharisäern und Schriftgelehrten ausgegrenzt wurden. Das hat man ihm zum Vorwurf gemacht. Und er hat gesagt: „Nicht die Gesunden, sondern die Kranken bedürfen des Arztes.“ Das war eigentlich in meiner Ausbildung das Prinzip.

Obdachlose, alkoholkranke Männer oder wohnungslose Frauen mit psychischen Problemen. Warum helfen Sie gerade diesen Menschen?
Als ich in meiner Pfarrgemeinde begonnen habe, war mir bewusst, dass die Menschen, wenn sie an Armut denken und Armen etwas geben wollen, immer auswählen. Sie suchen sich jene aus, die ihnen zu Gesichte stehen, zu Herzen stehen, die sozusagen das edle Bild des Armen wiedergeben. Und die anderen, die klammern sie aus.

„Ich hab das damals schon in zwei Gruppen geteilt. Es gibt die schöne Armut, obwohl das Wort Armut mit Schönheit nichts zu tun hat, aber, das ist die Armut, die zu Herzen geht. Und es gibt die hässliche Armut.“

Da alle Menschen, die hilfswillig und massenweise bereit sind, dieser schönen Armut zu helfen, aber die anderen links liegen lassen, habe ich gesagt, dann dreh ich das um. Ich kümmere mich um die sogenannte hässliche Armut und nur um die hässliche Armut. Und das waren in Graz damals 40 schwer alkoholkranke Männer. Sie haben in Abbruchhäusern oder unter Brücken geschlafen, in Rattenlöchern gelebt, in einem furchtbaren Elend. Und die sind halt auch gelegentlich zu mir gekommen. Ich war so hilflos, ich wusste nicht, was ich machen kann.

„Damals bin ich auf die Idee gekommen: „Ich stell einen Bauhüttencontainer auf und lass einmal drei Leute drinnen schlafen.“ Und das hat funktioniert und sich aus diesem Urgedanken weiterentwickelt.“

Heute betreuen wir von der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg aus ungefähr 400 Menschen in Österreich, die zu den Ausgegrenzten gehören, mit denen niemand was zu tun haben will, für die es auch keine Zukunftsperspektiven gibt. Wo wir sagen, du sollst auch ein würdiges Plätzchen in dieser Welt haben. Das ist uns nicht nur für alkoholkranke Männer gelungen, sondern auch für Drogenabhängige. Wir haben eine eigene Einrichtung, wo Drogenabhängige nicht nur betreut werden, sondern auch bleiben können. Solange, bis sie eine neue Unterkunft und Versorgung haben.

Dann haben wir eine Einrichtung für Frauen mit psychischer Belastung, die ihre Krankheit nicht erkennen und auch nicht akzeptieren, sich von Ärzten nicht betreuen lassen. Die können sie nirgends unterbringen, die sind nur bei uns im VinziLife.

Als erste in ganz Österreich haben wir bettelnde Romafamilien aufgenommen. Familien, nicht Einzelpersonen. Die sind heute noch bei mir.

Und so ist, wenn Sie jetzt den großen Bogen zusammenfassen, zu erkennen, wohin ich tendiere. Die sogenannte hässliche Armut möchte ich mit allen Mitteln versuchen zu mildern und wo es geht zu bekämpfen.

Gibt es auch Erfolgserlebnisse? Wenn man sagen kann, sie oder ihn konnte man wieder erfolgreich in die Gesellschaft eingliedern.
Um diese Leute, die wieder eingliederbar sind, reißen sich viele Institutionen. Und die zeigen dann in ihren Jahresberichten, wer schon wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert wurde, wer eine Familie gegründet hat und jetzt lebt wie ein normaler Mensch. Für diese Leute bin ich gar nicht zu haben.

„Ich möchte mich um die kümmern, die schon mindestens sieben Alkoholentzüge hinter sich haben und wo es keinen Sinn mehr macht, einen achten zu probieren. Für die Leute, die sich selber fallen gelassen haben und nicht mehr aufstehen können.„

Wir sind zum Beispiel derzeit in Graz mit einem Mann beschäftigt, der zwei Jahre durchgehend auf einer belebten Straße gelebt hat, auch in der Nacht. Den haben wir jetzt bei uns. Er ist verschmutzt, er will sich nicht waschen. Wir lassen das alles zu. Wir sagen, du sollst auch das Gefühl haben, dass wir für dich da sind.

Ihre Projekte sind ja heftig umstritten. Sie müssen Anfeindungen und Kritik aushalten. Was treibt Sie immer wieder an?
Sie haben vorhin das Wort Erfolg in einem anderen Zusammenhang verwendet. Für mich ist es ein Erfolg, wenn ein von mir Betreuter plötzlich zu mir sagt „Du bist mei Voda“, mein Vater. Und das passiert mir im Vinzidorf in Graz. Die Bewohner, nicht alle, aber viele, nennen mich Vater.

„Wenn der plötzlich einen Menschen hat, zu dem er Zutrauen hat, der auch zu ihm Zutrauen hat und der mit ihm menschlich umgeht. Obwohl er sich nicht benimmt und angepasst verhält. Das ist Erfolg.“

Das Evangelium hat nicht als Ziel Erfolge präsentieren zu können, sondern das Evangelium hat zum Ziel Menschen zu heilen, zu erlösen. Und wenn eine totale Heilung möglich wäre und ist, dann ist es natürlich großartig.

Aber es gibt zu viele Menschen, die müssen unter den Bedingungen unter denen sie aufgewachsen sind, ihren genetischen Vorbedingungen, ihrem Umfeld, leiden. Und da kann man nichts anders tun als das, was meine Mutter immer gesagt hat, „zuwerean“. Mit ihm oder ihr weinen und ihm oder ihr vermitteln, es tut auch mir bis ins Herz weh, wenn ich sehe, wie es dir geht.

Wir sind hier im Vinzidorf in Wien Meidling, das Anfang Dezember eröffnet wurde. Platz gibt es momentan für 24 Menschen. Nach welchen Kriterien wurden die Bewohner ausgewählt?
Also, wir gehen sie nicht suchen. Soweit ich gehört habe, haben die ersten drei die schon da sind durch Personen, die sie betreut haben erfahren, dass da was Neues gemacht wurde. Und der erste, der aufgenommen wurde, war fünf Jahre obdachlos. Er hat unter der Philadelphiabrücke gelebt. Also wir müssen sie gar nicht suchen, sie kommen von selbst. Sehr viele haben untereinander Kontakte, und die sagen es weiter.

Fällt es Ihren Schützlingen schwer Hilfe anzunehmen?
Das ist unterschiedlich, manchen fällt es schwer, andere sind dankbar, wenn sie Hilfe kriegen. Derjenige, der hier als Erster aufgenommen wurde, hat mir gesagt, dass alle anderen Einrichtungen nicht für ihn geeignet waren. Er hat sich dort nicht wohl gefühlt, ist nicht mehr hingegangen, nicht geblieben. Hier ist er sofort geblieben. Und jetzt hat er es mir selbst erzählt, er fühlt sich hier wohl. Das ist das Um und Auf.

Weil er so sein darf wie er ist?
Wir haben keinen Resozialisierungsdruck und wir haben auch keine großen Bedingungen. Die einzige Bedingung ist: Gewalt darf nicht angewendet werden. Er darf trinken, er darf schlafen so lange er will, er kann kommen und gehen wann er will. Das Einzige ist, wir müssen auch zusammenleben können. Und da darf Gewalt keine Rolle spielen.

Haben Sie jemals ans Aufgeben gedacht?
Ja. Wir haben 16 Jahre um diesen Platz gerungen, gekämpft, wir haben Verhandlungen geführt und wir sind abgewiesen worden. Dann haben wir endlich diesen Platz bekommen, von meinen Ordensbrüdern, den Lazaristen. Und dann haben die Nachbarn, wer immer das war weiß ich nicht, angefangen, Unterschriften zu sammeln. Wenn so eine massive Gegnerschaft da ist, beginnt man sich irgendwann zu fragen, ob das noch geht, ob das machbar ist. „Ich habe einen Satz, der sehr locker gesprochen ist, aber der doch auch etwas bedeutet. Der Satz: „Geht nicht, gibt’s nicht.“ Und für mich geht etwas erst dann nicht, wenn ich für mich selber gesagt habe: „Das geht wirklich nicht.“

Also Aufgeben im Sinne von ganz Aufgeben, das ist nicht passiert. Aber sozusagen nicht mehr wissen, wie es weitergeht und die Sorge zu haben, dass es nicht gehen könnte, das war schon der Fall.

Was bedeutet Glück für Sie?

(Lächelt) Dieser Satz ist ein ganz großartiger und wichtiger Satz. Es ist im Grunde das selbe, was eine Mutter empfindet, wenn sie sieht, dass es ihrem Kind gut geht. Dann ist sie selber glücklich. Und Glück ist wahrscheinlich für alle Menschen ziemlich das selbe.

„Also das Besondere besteht im sich selber geben für andere.“

Wenn man erlebt, dass man einem anderen Menschen ein Leben ermöglichen konnte, das eine Verbesserung ist. Das ist ein Gefühl, dass man sagt: „Mein Gott, gut, dass wir uns begegnet sind.“ Wer weiß, wo er oder sie sonst gelandet wäre. Und da hat man auch das Gefühl, dass man für diesen Menschen etwas Besonderes getan und zustande gebracht hat.

Es kann sehr belastend sein, immer nur für andere da zu sein. Was machen Sie für Ihr eigenes Wohlbefinden?
Ich lebe ja in einer Pfarrfamilie in Graz, die relativ groß ist. Dann lebe ich in der Vinzenzgemeinschaft, in einer zweiten großen Familie. Die sind relativ verschieden. Die Pfarrfamilie ist im Großen und Ganzen eher eine religiöse Gemeinschaft. Die Vinzenzgemeinschaft ist eine Hilfsgemeinschaft, in der jeder dem anderen vermittelt: „Du, helfen wir zusammen.“ Wenn ich in einer Vinzenzgemeinschaft sitze, dann habe ich ein Erlebnis, das ich außerhalb dieser Gemeinschaft nicht so schnell habe.

„Ich empfinde es nicht so, dass ich immer für andere da bin. Ich laufe diesen Menschen auch nicht nach. Da klopft jemand an meine Türe, ein Mann oder eine Frau, und fordert mich jetzt. Und wenn ich nix tun kann oder wenn ich zu schwach, oder zu wenig begabt bin oder zu wenig Möglichkeiten habe, dann geht es mir nicht gut.“

Menschen, die eine Tätigkeit ausüben, die ihnen selber Freude macht, die bekommen die Freude sozusagen als Geschenk, wenn sie diese Tätigkeit gut erfüllen. Ich kann mir vorstellen, dass ein Arzt ein großes Glücksgefühl hat, wenn er einen Patienten operiert, der nirgends Hilfe gefunden hat und der Patient dann zu ihm sagt: „Herr Doktor, Sie haben mir das Leben gerettet.“ Das ist das Gefühl, das man hat.

Wir sind ja überhaupt als Menschen, nicht nur als Christen, eigentlich dazu da, um uns für andere zu geben, zu opfern, zu verschenken. Das ist unsere Lebensaufgabe. Und darin ist auch das Glück begründet.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Wohngesund hat dem VinziDorf Wien Parkettböden für 10 Räume gespendet. Wir hoffen, dass wir einen Teil dazu beitragen konnten, den lange heimatlosen Menschen im VinziDorf Wien ein Stück weit ein würdiges Zuhause zu schenken und wir ihnen auch ein wenig Freude bereiten konnten.

Wenn ihr auch helfen wollt und jetzt sagt, dieses Jahr möchte ich einmal für jene etwas spenden, die von der hässlichen Armut betroffen sind http://www.vinzi.at/de/spenden/

Die VinziWerke freuen sich über jede Spende, mag sie auch noch so klein erscheinen. Schon eine Tasse Kaffee ist für einen anderen Menschen oft ein kostbares Geschenk.

Wer im ersten Onlineshop, in dem man nichts kaufen kann, etwas Gutes tun will http://www.vinzistore.at

veröffentlicht in Menschen am 18.12.2018